Der halbe Mantel

Nun ist hier etwas passiert, was dem ersten Blick nicht zugänglich war. Man könnte meinen, Martin hat den Bettler nicht wiedergesehen, der hättet sich ja davon machen können mit dem schönen halben Stück, es versetzt gegen irgendwas anderes. Im bekannten Martinslied wird der Vorhang weggezogen und aufgedeckt, was sich „eigentlich“ ereignet hat. Das war ein Gottesdienst auf offener Straße, eine verborgene Christusbegegnung, eine Art Berufung oder eine Szene, in der im Rückspiegel dem Martin aufgeht: Hier hat sich Jesus versteckt, hier ist Er mir auf den Fersen, ruft mir nach, erinnert mich, hat Er meine Liebe geweckt. Hier ist mir unbewusst Christus eingeleuchtet, hat ein wacher Mensch Gottes arme Menschlichkeit gespürt und Ihm seine Menschenfreundlichkeit geschenkt – vielleicht nur in einem guten Werk, etwas linkisch, stolpernd, fast im Vorübergehen, eine Tat, die nach Kompromiss aussah. Hier habe ich Gott gewärmt und vor dem Kältetod in dieser Welt gerettet. Martin lässt sich von Gott im Schlaf stören, ihm geht im Traum auf: Hier ist mir mein Herr und Meister als Knecht und Bettler begegnet. Hier ist mir der bittende Gott nahegekommen, der um meine Gegenliebe bettelt, meine Mantelwärme, mein Herzblut, meine riskante Tat, die mich komisch – wie eine Vogelscheuche – aussehen lässt, mit einem Stofffetzen am Körper, gar nicht imponierend, gar nicht offiziersgemäß. Unverhofft, unerwartet, ungefragt hat Christus Martin gestört, seine Wege unterbrochen und durchkreuzt, den Soldaten gestellt und gestoppt, ihn zu einer reaktionsschnellen Entscheidung gezwungen. Das feiern wir, eine kleine Geste in Amiens, ein großer Schritt für Europa und die Zukunft der Menschlichkeit.